Die Individualdistanz
1. Was ist eine „Individualdistanz“?
Wie das Wort schon vermuten lässt, handelt es sich um eine individuelle/ persönliche Distanz, die ein Hund zu einem anderen Sozialpartner (zu einem anderen Hund oder Menschen) benötigt, um sich wohl zu fühlen. Daher nennt man diese Distanz auch nicht selten „die eigene Wohlfühldistanz“. Erst wenn die Individualdistanz (im weiteren Verlauf mit „ID“ abgekürzt) eines Hundes unterschritten wird, muss dieser mit Meide,- Flucht, Droh- oder auch Angriffsverhalten reagieren, um seine persönliche ID zum anderen Sozialpartner wiederherzustellen. Als Hundehalter sollte man wissen, dass sein Vierbeiner eine innere und eine äußere Individualdistanz-Grenze hat, die er täglich neu und situationsbeding festlegt (später dazu mehr).
2. Wovon hängt die Individualdistanz ab?
Wie bereits erläutert, ist die benötigte ID bei jedem unterschiedlich. Nicht nur die Hunde haben eine ID, auch wir Menschen. Sehr viele Faktoren spielen hierbei eine Rolle, unter anderem:
• Angefangen vom Charakter der Hunde:
Gewisse Charaktermerkmale bringt eine Rasse mit sich. Ist mein eigener oder der fremde Hund z.B. eher ängstlich und zieht sich lieber zurück; oder ist er der Draufgänger-Typ, ist selbstsicher und geht schnell nach vorne?
• Die auslösende Situation, in der sich der Hund befindet:
Ist die Örtlichkeit der Begegnung eng, unübersichtlich, dunkel und der Hund vielleicht angeleint? Oder hat er freie Sicht, ist ohne Leine und hat eine Wiese um eventuell die Distanz selbst zu vergrößern?
• Die Erfahrung & das Alter:
Wie ist er aufgewachsen & sozialisiert worden? Hat er viel kennengelernt, ist schon älter und damit erfahrener? Oder ein Jungspund, der noch austestet wie weit er gehen kann/muss?
• Das innere Wohlbefinden:
Hat er z.B. Schmerzen, ist nicht gut drauf und benötigt daher eine größere ID?
• Der Halter:
Wie reagiere ich als Halter? Bleibe ich cool oder übertrage ich meine Anspannung auf den Hund z. B. weil ich krank, unkonzentriert oder von der Arbeit gestresst bin?
3. Die innere und äußere Individualdistanz:
Vom Hund ausgesehen gibt es eine innere (im Bild als roter Kreis dargestellt) und eine äußere Individualdistanz (im Bild als grüner Kreis dargestellt). Wenn nun ein fremder Sozialpartner die äußere grüne Grenzlinie überschreitet (im Bild der rechte Pfeil), reagiert mein Hund in der Regel mit Meide-Verhalten oder leichten Drohgebärden. Er versucht die Situation zu entschärfen, beschwichtigend oder auch deeskalierend einzuwirken. Werden die Reaktionen meines Hundes nicht vom Gegenüber beachtet oder ernst genommen (und überschreitet der fremde Sozialpartner den roten inneren Kreis; linker Pfeil) kommt es zwangsläufig zum Angriff oder starkem Abwehr- oder auch Überforderungsverhalten meines Hundes.
Grundsätzlich bewegen sich die zwei gedachten Kreise mit meinem Hund. Ein unangeleinter Hund hat immer die Möglichkeit mit Flucht zu reagieren. Ihm ist es möglich, die Distanz selbst zu erweitern um vom roten Bereich wieder in den grünen Bereich zu kommen. Der angeleinte Hund oder der Hund, der sich z.B. in einem engeren Raum befindet, kann diese Fluchtmöglichkeit nicht nutzen. Er zieht seine zwei gedachten Kreise unter den Bedingungen wahrscheinlich viel enger und reagiert schneller.
4. Wie kann ich die Individualdistanz meines Hundes feststellen?
Fragen Sie einen Hundehalter, ob er Zeit für ein „Begegnungstraining“ hat. Verabreden Sie sich und lassen den fremden angeleinten Hund aus einer größeren Entfernung auf sich und Ihren Hund zukommen. Wählen Sie hierzu ein übersichtliches Gebiet, welches für den Hund gut überschaubar ist (z.B. ein Feldweg, eine große Wiese). Beobachten Sie nun durchgehend Ihren eigenen Hund.
• Ihr Hund wird ab einer bestimmten Annäherung erste Signale zeigen, wie z.B. Ohren aufstellen, fixierender Blick, nicht mehr ansprechbar, evtl. Fluchtverhalten → dies ist die äußere Individualdistanz (grüner Bereich), indem sich ihr Hund befindet.
• Kommt der andere Hund näher, wird Ihr Hund ab einem bestimmten Punkt mit weiteren Signalen reagieren, wie z.B. bellen, an der Leine ziehe, körperlich steif werden, … und bei engem Kontakt evtl. auch Aggressions- und Angriffsverhalten zeigen → dies ist die innere Individualdistanz (roter Bereich).
5. Wofür ist die Individualdistanz gut?
Letztendlich kann man sagen, dass Sie „überlebensnotwendig“ ist und maßgeblich zum Wohlbefinden des Hundes beiträgt. Sie ermöglicht meinem Hund mit anderen Sozialpartnern zu kommunizieren und hält das Rudelgefüge aufrecht. Hierbei ist nicht nur die körperliche Nähe ausschlaggebend, sondern auch der Sichtkontakt. Zum Beispiel kann mein Hund mit Hilfe seines fixierenden Blickes die ID herstellen oder auch aufrechterhalten. Ein anderer Hund weiß dann, dass er nicht näherkommen darf, da er sonst in die innere ID (roter Bereich) gelangt.
Meine Empfehlung für Sie:
Um die Signale Ihres Hundes näher kennenzulernen, kann ich nur wärmstens die DVD „Calming Signals“ von Turid Rugaas sowie die DVD „Kommunikation von Hunden“ von Gaby Abels und Claude Van Eendenburg empfehlen.